Die atypische Netznutzung I

Unter der atypischen oder individuellen Nutzung des Stromnetzes ist die gesteuerte Verminderung ihres maximalen Leistungsbezugs durch Großkunden in den durch die gewöhnliche Kundenlast entstehenden Hochlastzeiten auf einer Spannungs- oder Umspannungsebene zu verstehen. Mit diesem veränderten netzschonenden Nutzungsverhalten können Verbraucher gegenüber dem zuständigen Netzbetreiber ihr jeweiliges Netznutzungsentgelt (vgl. Artikel „Netznutzungsentgelte in der Energiewirtschaft“) verringern.

In der Energiewirtschaft fällt die Höchstlast in sogenannten Hochlastzeitfenstern an, so dass der Gesamtverbrauch von Haushalts-, Gewerbe- und Industriekunden zu diesen Stoßzeiten im Sinne der Netzstabilität sowie aus Gründen der limitierten Netzkapazität nicht noch weiter ansteigen sollte. Um die zu deckende Last zu reduzieren und somit das Stromnetz zu schonen, wird Großverbrauchern vom Netzbetreiber bzw. vom Gesetzgeber ein monetärer Anreiz gegeben, ihren eigenen Maximalbezug aus dem Netz in jene Zeiten von überwiegend vorherrschender Schwachlast zu verlagern und somit Netznutzung zu vermeiden (ähnlich dem in den Beiträgen „Das Netzentgeltmodernisierungsgesetz (NEMoG)“ und „Beschluss der Modernisierung der Netzentgeltstruktur (NEMoG)“ dargestellten Sachverhalt).

Die individuelle Netznutzung ist im Energierecht in der Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) geregelt, die am 29. Juli 2005 in Kraft trat und neben anderen einschlägigen energiewirtschaftlichen Gesetzen und Rechtsverordnungen vor dem Hintergrund der Energiewende die zusätzliche Einspeisung erneuerbarer Energien bei gleichbleibender Netzstabilität gewährleisten soll. § 19 dieser Verordnung befasst sich mit den im Rahmen der Netznutzung möglichen und auftretenden Sonderformen, wobei das in diesem Beitrag behandelte Thema in § 19 Abs. 2 Satz 1 StromNEV behandelt wird.

Atypische Netznutzung kann auf allen Spannungs- und Umspannungsebenen des Stromnetzes für eine Reduzierung der durch den Kunden an den Netzbetreiber abzuführenden Netznutzungsentgelte geltend gemacht werden; im Einzelnen auf den Ebenen der chst- (HöS, ≥ 220 kV), der Hoch- (HS, 60 kV bis 150 kV), der Mittel- (MS, 1 kV bis 35 kV) und der Niederspannung (NS, < 1 kV) sowie auf den zwischen den vorgenannten Spannungsebenen erfolgenden Umspannungen, d. h. HöS/HS, HS/MS und MS/NS, des jeweils betrachteten Netzgebietes.

Bei der Berechnung des individuellen Netzentgeltes ist ausschließlich der Leistungsanteil ausschlaggebend, der um die Differenz zwischen den beiden absoluten Höchstbezugswerten inner- und außerhalb der vorgegebenen Spitzenlastzeiträume multipliziert mit dem für die jeweilige Spannungsebene und der spezifischen Jahresbenutzungsdauer (≥ oder < 2.500 h/a für Zählpunkte mit registrierender Leistungsmessung (RLM)) relevanten Leistungspreis [in TEUR/MW oder EUR/kW] reduziert werden kann. Für die Ermittlung des letztendlichen gesamthaften Netznutzungsentgeltes des Stromkunden wird dieser verminderte Leistungsanteil abschließend dem unveränderten Arbeitsanteil [in EUR/MWh oder ct/kWh] hinzuaddiert.

Beispiel: Ein großer Industriekunde bezieht außerhalb des vom Stromnetzbetreiber definierten Hochlastfensters eine absolute Jahreshöchstspitze von 100 MW im Hochspannungsnetz. Innerhalb der Spitzenlastzeit kann er seine Bezugsleistung auf 70 MW reduzieren (z. B. durch Eigenerzeugung oder Lastabwurf). Bei einem auf seiner Spannungsebene für ihn geltenden Leistungspreis in Höhe von angenommen 10 TEUR/MW muss der Letztverbraucher statt normalerweise 100 MW x 10 TEUR/MW = 1 Mio. EUR aufgrund seiner an bestimmte Bedingungen geknüpften Teilnahme an der atypischen Netznutzung nun nur noch 70 MW x 10 TEUR/MW = 700 TEUR an leistungsbezogenem Netzentgelt entrichten, so dass er 300 TEUR Kosten vermeidet respektive die durch ihn vermiedene Netznutzung vom Netzbetreiber mit 300 TEUR „vergütet“ bekommt.

Im folgenden zweiten Teil soll näher auf die unterschiedlichen zeitlichen und genehmigungsrechtlichen Rahmenbedingungen bei einer Teilnahme von Stromkunden an der atypischen Netznutzung eingegangen werden, die von Netzbetreiber, Regulierungsbehörde und Gesetzgeber vorgegeben sind.